Die Sucht nicht zu essen

Magersucht – für Jonas war das ein Schritt näher zur Erleuchtung, zum Bodhisattva. So werden im Buddhismus Wesen bezeichnet, die nach höchster Erkenntnis streben. Man könnte sagen, sie sind Erleuchtungswesen. Jonas war ein solches Wesen, er war auf der Suche nach sich selbst, doch er floh vor seinem Inneren. Er begann zu Hungern – seine Form der buddhistischen Askese. Seine Essstörung verschwieg er damals – inzwischen geht er offen damit um. Wie es ihm heute geht erfahrt ihr hier.

Ich treffe Jonas bei sich Zuhause. Als ich den Raum betrete fühle ich mich sofort wohl. Jonas begrüßt mich mit einer Umarmung – er lächelt. Ein Gefühl von Geborgenheit überkommt mich. Als wir auf seine Essstörung zu sprechen kommen, beginnt er zu reden. Fragen muss ich ihm kaum stellen. Er redet ohne Punkt und Komma, dieses Thema scheint ihn nicht zu stören. „Vielen Menschen ist es unangenehm“, erklärt er mir. Mit gewählter Ausdrucksweise schildert er mir seine Geschichte. Jonas wirkt selbstreflektiert, schon fast erleuchtet.

Wie alles anfing

Als Kind lag Jonas vier Monate im Brutkasten. Er hatte eine Darmkrankheit mit einer Überlebenschance von zwei Prozent. „Als dann nach vier Monaten die Operation eingeleitet werden sollte, trat unerwartet ein Genesungsprozess ein. Zwei Wochen später wurde ich entlassen. Es war wie ein kleines Wunder.“

Schon als Kind war Jonas etwas komisch. Anders als die Anderen. Er konnte Menschen nicht leiden. Anstatt auf dem Spielplatz mit anderen Kindern zu spielen, verbrachte er seine Zeit lieber alleine im Wald.

Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern. Als er gerade mal 10 Jahre alt war, starb seine Oma durch einen Herzinfarkt. Auch sein Opa erkrankte: Diagnose Krebs. „Sein Zustand wurde immer schlechter und ich musste ihn pflegen. In der Schule hat das niemand verstanden. Mein Leben war sehr gegensätzlich.“

Beginn der Sucht

Die Suchtgeschichte des heute 22-Jährigen beginnt vor acht Jahren – mit 14. Damals war er leicht übergewichtig. „In der Schule wird man schnell zu einem Identifikationsobjekt, wenn man sich nicht anpasst. Gruppen identifizieren sich dann damit, zu sagen, dass sie besser sind, als du.“ Den Begriff Mobbing vermeidet Jonas, denn er missfällt ihm.

Mit der Zeit fing er an sich mit diesem Zustand zu arrangieren. Er identifizierte sein Wesen damit, eben nicht dazuzugehören. Eine Rolle als Außenseiter.  Doch irgendwann wurde der psychische Druck zu groß „Ich habe dann eine Methode gefunden, mit der ich mich über das Alles stellen konnte. Meine Methode war die Anorexie.“ Mit der Magersucht, der Anorexie, hatte er ein klares Ziel vor Augen: „Mich solange herunterzuhungern, bis ich schön bin.“

Sein damaliges Faible für den Buddhismus unterstützte die Magersucht. „Laut Buddhismus kann man Realität, also auch den eigenen Körper, durch den bloßen Willen verändern. Ich habe durch Willenskraft meinen Körper verändert. Buddhisten nennen das Askese.“ Das Hungergefühl hat er sich mit der Zeit abtrainiert. Bis heute spürt er keinen Hunger mehr. Ein halbes Jahr nach Beginn der Essstörung stirbt sein Großvater. „Dann hatte ich keine Aufgabe mehr im Leben. Deswegen fasste ich den Entschluss, mich umzubringen. Durch Hunger.“

Die Magersucht nahm immer mehr Platz in den Gedanken ein. Das lief eineinhalb Jahre so weiter. Jonas Tiefstgewicht lag bei 46kg – bei einer Körpergröße von über 1,80m. Soziale Kontakte, Zuneigung oder Hilfe, das war ihm damals alles völlig egal. „Weil ich das nicht wollte, aber auch aus Angst!“

Oft wurde seine Sucht verharmlost. „Als Mann Magersucht zu haben ist eine sehr unschöne Angelegenheit, denn es wird als Frauenkrankheit tituliert. Du kannst doch gar nicht magersüchtig sein! Du bist ein Kerl!“ Diesen Satz musste er sich oft anhören. „Das sind Dinge die schließen dich noch mehr ein, die bestätigen dich in deiner Antipathie.“ 

Schnell drinnen, schnell wieder draußen

Den genauen Weg hinaus kann er nicht beschreiben. „Ich war schon immer ein Mensch der Extremen. Die Sucht ging so schnell wie sie gekommen ist. Eines Tages habe ich mich im Spiegel betrachtet und fand mich nicht mehr schön.“

Meditation, Kontemplation, Reflexion unterstützen den Heilungsprozess. Nach zwei Jahren Magersucht begann er wieder zuzunehmen. Was ihm blieb, war die Ablehnung seines Geschlechtes. „Ich dachte, ich lebe im falschen Körper. Wäre ich 18 gewesen, hätte ich mich umoperieren lassen. Ich durfte als Mann all das nicht sein, was ich sein wollte: emotional, sensibel, magersüchtig.“

Die Sucht geht weiter

Hier begann der Schritt in die nächste Abhängigkeit: Crystal Meth. „Ich bin in eine Szene gekommen, die sehr drogenfixiert ist. Oberflächlichkeiten hatten keine Bedeutung mehr. Die einzige Verbindung war unsere Abhängigkeit.“ Zum ersten Mal im Leben hatte er wirkliche Freunde, auch wenn es rückblickend keine richtigen Freunde waren.

Übermäßig viel hat er nicht konsumiert. „Bei Crystal war ich vom Besitz abhängiger als vom Konsum.“ Er hatte immer etwas einstecken und kontrollierte sein Versteck täglich. „Es hat nicht mein Leben eingenommen, aber meinen Geist, mein Denken.“

Umzug in die nächste Abhängigkeit

Als er nach Berlin zog verlagerte sich die Sucht auf Speed. Er studierte dort Psychologie. „Da ich wusste wie schädlich C ist hatte ich bei Speed weniger Hemmungen und habe geschnupft wie ein Weltmeister.“ Am Schluss waren es täglich 3-4 Gramm. „Ich hatte Angst raus zu gehen, ja sogar mein WG-Zimmer zu verlassen. Ich hatte Angst dass die Leute durch meine Fassade schauen können.“ Jonas ist zu diesem Zeitpunkt circa 20 Jahre alt. Die Angst wird natürlich auch vom Speed verursacht. Und abgeschwächt. Und verursacht. Ein Teufelskreis. „Es war eine Form von Realitätsflucht. Ich habe all das bewusst gemacht, nur das meine Handlungen irgendwann zum Reflex wurde ist mir nicht aufgefallen. Ich dachte, ich tat es freiwillig.“ Er brach sein Psychologiestudium ab.

Dann hat Jonas sich einweisen lassen. Ihm wurde DPD diagnostiziert. Das ist eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, die unter anderem zu multiplen Persönlichkeiten führen kann. „Dadurch hatte ich auch Halluzinationen.“

Die letzte Flucht

Nach der Psychiatrie wollte er mit harten Drogen nichts mehr zu tun haben. Die nächste Sucht begann: Alkohol. „Ich habe festgestellt: Scheiße, das funktioniert ja richtig gut. Alkohol lässt alle Gefühle und Probleme verschwinden.“ Früh stand er auf und trank erstmal eine halbe Flasche Gin Tonic. „Ich hatte das Zeug Literweise überall vorgemixt rumstehen. In meinem Schrank, Rucksack, Kühlschrank und so weiter. Täglich habe ich 2-3 Liter getrunken.“ Trotzdem hat er darauf geachtet, dass niemand all das mitbekommt.

Nach einem halben Jahr hörte er auf mit dem Trinken. Irgendwann dachte er sich „ Wenn ich es schaffe mir das Essen abzutrainieren, dann schaffe ich auch all das hinter mir zu lassen – drüber zu stehen und darüber zu lachen.“

Heute

Nach jahrelangem Schweigen geht Jonas heute offen mit seiner Vergangenheit um. „All das bin in gewissen Maßen ich. Es hat dazu beigetragen wer ich heute bin.“ Für ihn ist jede Abhängigkeit nur die Suche nach etwas beständigem, Repetition, permanente Wiederholung. Yoga oder Meditation sind heute seine positiven Repetitionen. „Ist es freier Wille der uns zu dem bringt, was wir tun? Oder ist es Kompensation? Die Mechanik ist in beiden Fällen gleich. Man redet sich immer etwas ein.“ Durch seine Sucht floh er vor seinem Inneren. „Es ist schwierig jeden Tag zu saufen und zu koksen, noch schwieriger ist es in sich hineinzublicken.“

Heute kann er sagen: die grundlegende Ursache für die Abhängigkeit waren fehlgerichtete Intentionen und Identifikation durch Ablehnung der Realität. Eine Frauenkrankheit als Ablehnung der Dualität von Mann und Frau. Illegale Drogen als Ablehnung des normalen Lebensstils. Trotz seiner Sucht machte er mit 18 sein Abi mit 1,0. Studieren war nichts für ihn. Heute arbeitet er. Aber wenn er etwas macht, dann macht er es richtig. „Ich bin eben ein Kind der Extremen und das liebe ich auch! Ich mache keine halben Sachen! Das nennt man Passion.“

Die Sucht hat ihm nichts genommen. Nur gegeben. Empfindsamkeit, Demut und Bescheidenheit hat er durch sie erlernt.„Alles läuft nach dem Phönix-Prinzip. Die Welt und auch wir Menschen. Mit der Eiszeit wird alles zerstört, um danach in noch größerer Blüte zu erstrahlen. Wir müssen erstmal unsere Identität verlieren, um herauszufinden, was wir sind.“ Das einzige was jetzt zählt ist, dass er einen Weg aus der Sucht gefunden hat.„Trotzdem sollte man sich Hilfe suchen wenn man süchtig ist!“ Neben Hilfe von Anderen kann auch Meditation helfen, gegen Sucht anzukämpfen.

Yoga und Meditation geben ihm heute Kraft. Er ist zufrieden mit sich und seinem Körper. „Ich glaube, dass wir durch Zufall immer das für unser persönliches Wachstum bekommen, was wir brauchen. Die Welt serviert uns nicht immer was uns schmeckt, aber immer was wir brauchen!“

Famous Last Words

„Das ist ein Aufruf, unsere ach so schlimmen Krankheiten und Leiden nicht zu verstecken. Sondern ihren Wert zu erkennen, sie offenzulegen und so aus ihnen herauszuwachsen. Das ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit, mehr Verletzlichkeit und mehr Imperfektion nach außen!“

Nachtrag: „Ihr, die ihr einen Teil von euch in meiner Geschichte seht: Wisset, jeder, der vor euch steht, ist auch nur Geist in fleischlicher Form, Gefühl in menschlicher Hülle. Und ihr seid gesegnet, denn ihr seid gezwungen, diesen Geist und dieses Gefühl anzunehmen, wieder weich und liebevoll zu werden, so wie ihr es einst als Kinder wart, bevor euch die Konzepte und die mentalen Mauern dieser Welt erschlagen haben. Bitte, bitte, verlernt niemals, euch zu vergeben und über euch zu lachen. Denn mitnehmen werdet ihr all die Liebe und all das Lachen, das ihr euch und den Wesen der Welt gebt, nicht aber eure Ängste, nicht eure Zwänge und auch nicht eure Konzepte. Shalom aleichem – gehet in Frieden!“

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